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Flaggenwechsel

Schauspiel in 3 Akten von Gerhard A. Ebert

 

 

 

1.AKT

Geräumige Wohnküche im ersten Stock eines Reihenhauses in einer sächsischen Kleinstadt. In der Rückwand zwei Fenster zur Straße mit Blick auf das Haus gegenüber, dessen Fenster verschlossen sind. Zwischen den Fenstern ein Schränkchen, an der Wand auf einer Konsole ein Radio. Links neben dem linken Fenster ein Küchentisch, in der Ecke ein mit verblichen rotem Vorhang verdeckter Verschlag für Besen, Eimer und Handtücher, daneben an der linken Wand ein Küchenschrank, eine Tür und vorn an der Rampe ein Gasherd. Rechts neben dem rechten Fenster in der Ecke ein Sofa mit Tisch und Stühlen, in der rechten Wand Tür in den Hausflur, rechts daneben Wasserhahn mit Waschbecken und Spiegel sowie rechts vorn an der Rampe ein Küchenherd mit Abzugsrohr in die Wand.

 

 

1. Szene

Vater sitzt am Tisch, stopft stoisch Tabakblätter in eine Presse und presst sich Zigarettentabak. Ab und zu steht er auf zu diesem Zweck. Sohn steht auf einer Fußbank am Radio und hat ein Ohr am Lautsprecher, hält sich das andere Ohr zu. Mutter steht am linken offenen Fenster und schaut hinaus, meist nach rechts. Gespannte Ruhe.

Vater zum Sohn: Na, wo fliegen sie heute?

Sohn zuckt mit den Schultern:

Vater: Keine starken feindlichen Kampfverbände?

Sohn: Ganz schlecht zu verstehen heute!

Mutter: Vielleicht ist der Strom zu schwach.

Vater nickt: Könnte sein.

Mutter:  Ist überhaupt noch welcher da?

Vater zeigt beiläufig: Noch hört er Radio!

Mutter: Gott oh Gott, hab ich ja ganz vergessen.

Sohn unterbricht ungeduldig: Seid doch mal ruhig!

Mutter: Ja, ja! Bin ja schon still.

Sohn scheint etwas zu hören: Ruhe!

Vater: Na?

Sohn winkt ab, lauscht gespannt ins Radio, Vater zirkelt sich eine Zigarette mit dem frischen Tabak, Mutter schaut zum Fenster hinaus. Pause.

Vater: Garten ist jedenfalls nicht vorläufig!

Mutter: Jetzt sind es schon zwei Tage.

Sohn vorwurfsvoll: Soll ich nun oder soll ich nicht?

 Vater: Ja doch!

Sohn lauscht: Also, da kommen welche, und zwar, schaut auf eine Landkarte, von CA nach DB, das ist, schaut, ziemlich im Norden. Das ist gut. Nicht bei uns.

Mutter: Ein Segen.

Vater: Lassen uns in Frieden. Dacht ich mir schon. Die bomben nicht mehr hier. Treffen sonst noch ihre eigenen Leute.

Sohn: Sind denn die Amis schon in der Stadt? Schaltet das Radio aus, tritt zum rechten Fenster. 

Vater: Heute Nacht in der Unterstadt hieß es dauernd, die Amis kommen. Aber war nicht. Inzwischen stehen sie vielleicht schon auf dem Markt. Keine Ahnung.

Sohn: Müsste man doch was hören. Oder?

Vater brummig: Muss nicht!

Mutter: Schüsse würde man hören, Fred? Sag was!

Vater: Vielleicht ist die Wehrmacht längst getürmt.

Sohn: Getürmt?

Vater sarkastisch: In bewährter Vorwärts-Strategie!

Sohn: Woher willst du das wissen?

Vater: Na, weil kein Schuss fällt. Verstehst du.

Sohn: Ah ja, brauchen sie auch nicht zu bomben.

Vater: Genau! Wenn Widerstand wäre, dann schon!

Sohn schaut zum Fenster hinaus: Sieht nicht so aus.

Vater zu beiden: Ruhe? Oder?

Mutter schaut auch hinaus: Paar Leute an der Ecke.

Sohn: Ganz schön mutig!

Mutter: Ziemlich leichtsinnig. Jeder kann sie sehen. 

Vater: Bekannte dabei?

Mutter: Die da ganz vorn, sieht aus wie Erna.

Sohn merkt auf: Da ist doch Zeck bei denen!

Vater: Zeck? Was für Zeck?

Mutter: Ja, na sowas, sieht aus wie Streit. Die streiten. Die reden heftig auf jemanden ein. Ein Junge!

Sohn: Sieht aus wie einer von der HJ!

Mutter: Ja, ein Hitler-Junge! Er hat ein Rohr in der Hand.

Vater: Ein Rohr? Was für ein Rohr?

Mutter: Komisches Rohr! So ein Ding habe ich noch nie gesehen.

Sohn: Ist auf der einen Seite ganz dick.

Mutter: Jetzt ist er weg!

Sohn merklich berührt, ahnungsvoll: Hatte der eine Panzerfaust?

Mutter: Erna kommt zurück.

Vater: Frag sie!

Mutter ruft nach unten: He, Erna, was war denn los da?

Frauenstimme von der Straße: Ein Grünschnabel mit einer Panzerfaust.

Vater fährt hoch: Oh, verfault!

Mutter nach draußen: Kennst du ihn?

Frauenstimme von der Straße: Nicht von hier! Treibt sich herum der Lümmel. Hat noch nicht genug.

Vater tritt zum Fenster, ruft nach unten: Erna, gib Acht, der ist gefährlich!

Frauenstimme von der Straße: Sag ich ja auch! Aber was sollen wir machen? Er sagt, er verteidigt Deutschland.

Sohn versonnen: Volkssturm!

Vater zum Sohn: Blödsinn! Nach draußen: Wo ist er hin?

Frauenstimme von der Straße: Er sagt, die Amis stehen in der Unterstadt. Er will runter und einen Panzer knacken.

Vater:  Idiot!

Mutter entsetzt: Gott oh Gott, schrei sowas nicht auf die Straße!

Vater: Na ist doch wahr!

Frauenstimme von der Straße: Wir haben ihm gesagt, der Krieg ist vorbei!

Vater: Schön wär’s!

Frauenstimme von der Straße: Glaubst du nicht?

Vater: Da kommt noch was! Bestimmt! Die Amis kämmen jede Straße durch. Nimm dich in acht, Erna!

Frauenstimme von der Straße: Keine Angst! Ich pass schon auf! Vater wendet sich zurück.

Sohn: Wo hat der denn eine Panzerfaust her?

Vater: Chaos! Das ist das Chaos! Die Truppe löst sich auf, die Kameraden verkrümeln sich, werfen die Waffen weg, und irgend so ein HJler krallt sich was. Hat keine Ahnung, wie gefährlich so ein Ding ist. Gnade uns, wenn der hier Krieg spielt. Setzt sich wieder an den Tisch, werkelt mit seinem Tabak. Bleib mal am Fenster, Thea.

Sohn geht zum Fenster: Ich mach schon!

Vater: Oder du! Von mir aus. Behalte die Ecke im Auge!

Sohn schaut: Nichts los! Erna steht wieder da. Und paar Männer.

Mutter tritt zum Küchentisch, hantiert mit Geschirr: Ewig kann das doch nicht mehr dauern. Was, Fred?

Vater: Hm, das kann dauern. Und ob das dauern kann.

Mutter: Meinst du?

Vater: Bei denen will doch keiner mehr sterben. Ist doch klar! Wozu jetzt noch kämpfen. Das feindliche Heer löst sich in Luft auf, ganz von allein. Das kriegen die doch mit.

Sohn neugierig: Denkst du, die kommen gar nicht mehr hierher?

Vater: Doch, doch! Ganz bestimmt! Kommen tun sie. Und ob die kommen! Aber nicht gleich. Da wird ganz vorsichtig sondiert, Kundschafter hier, Kundschafter da. Ich kenne das doch. Die machen das genau nicht anders als wir damals. Bloß damals in Polen, da mussten wir noch hopp hopp vorwärts. Die jetzt, die haben das nicht mehr nötig. Die können sich Zeit lassen. Wenn sie sicher sind, dass hier keine Deutschen mehr stehen, dann kommen sie.

Sohn: Sind wir nicht auch Deutsche?

Vater: Quatsch doch nicht so dämlich!

Mutter: Wenn wir wenigstens in den Garten könnten!

Vater: Nicht dran zu denken! Wir müssen mit dem auskommen, was hier ist.

Mutter: Wir hätten mehr Frühkartoffeln holen sollen.

Vater: Müssen sie eben noch wachsen.

Mutter: Gott oh Gott!

Sohn: Vielleicht zieh ich mal los. Oben herum, beim Bismarckturm, durch die Gärten. Kein Problem. Oder?

Vater: Mein lieber Sohn, es ist Krieg! Verstehst du das? Krieg!

Sohn: Na und? Sie werden schon nicht gleich schießen.

Vater: Wie alt bist du? Vierzehn! Gut, da darf man noch so naiv daherreden.

Sohn: Moment mal! Wie alt warst du im 1.Weltkrieg?

Vater: Ich?

Sohn: Ja, du!

Vater: Hm, lange her, mich haben sie 17 noch geholt, da war ich 18.

Sohn: Siehst du!

Vater: Nun mal sachte! Immerhin vier Jahre Unterschied!

Sohn: Dreieinhalb!

Vater: Sei froh, dass sie dich nicht noch geholt haben, du Dummkopf! Ich musste gleich an die Front damals.

Sohn: Frankreich!

Vater: Ja, Verdun!  Und prompt verwundet!

Mutter: Erzähl’s ihm!

Sohn: Weiß ich doch! Weiß ich doch alles. Hat Vati oft erzählt.

Vater: Ja, hab ich?

Sohn: Hm, meistens,  wenn wir Besuch hatten.

Mutter verwundert: Ja?

Sohn: Musste ich Bier holen. Einen Krug beim Schimmel-Wirt. Und wenn die Männer was getrunken hatten, waren sie immer ganz geschwätzig!

Vater: Na, na, na!

Sohn: Dann schwärmten sie vom Krieg und was sie so alles erlebt hatten dabei. Alle waren sie kostenlos in der Welt herumgekommen. Und jeder war woanders.

Vater: Ich habe nie geschwärmt!

Sohn: Stimmt! Aber Onkel Max, der war immer ganz eifrig.

Mutter nachdrücklich: Du weißt nicht alles!

Sohn: Nicht alles?

Mutter winkt ab: Schon gut! Musst ja nicht alles wissen. Ist vielleicht auch nicht so wichtig.

Sohn neugierig geworden, hartnäckig: Was war da noch?

Mutter: Na, der ganze Ärger eben! Seitdem!

Sohn: Ärger? Seitdem? Was für Ärger?

Mutter: Na überhaupt.

Sohn beunruhigt: Was weiß ich nicht? Sagt es! Vati!

Vater: Sie meint mich und diesen Krieg. Der jetzt vor unserer Haustür steht.

Sohn: Ein Geheimnis?

Mutter: Kleinen Kindern konnte man nicht die ganze Wahrheit sagen.

Sohn: Warum nicht?

Mutter: Weil… schaut betont um sich …Feind hört mit!

Sohn empört: Bin ich ein Feind?

Mutter fühlt sich überfordert: Gott oh Gott, Junge!

Vater: Fast fünfzehn bist du jetzt, gut, du sollst es wissen. Bisher hat es nur Mutter gewusst, nur Mutter!

Sohn unsicher: Was ist denn los?

Mutter: Dein Vater hat…

Vater winkt ab: Lass mich das. Also: Du weißt, hab ich dir erzählt, x-mal erzählt, meine Ferse ist kaputt. Damals in Frankreich.

Sohn: Weiß ich!

Vater: Weißt du! Ein Granatsplitter haut mir die halbe Ferse weg. Ab ins Lazarett. Weißt du auch! Was du nicht weißt: Ich war zwar lädiert, aber der Krieg war vorbei für mich. Vorbei! Für immer vorbei! Weil: Seit damals kann ich in Knobelbechern nicht mehr laufen! Schon gar nicht marschieren! Verstehst du?

Sohn: Nicht so richtig!

Vater: 39, der Krieg war nur paar Tage alt, hatten sie mich wieder beim Wickel. Wir erfahrenen Weltkriegs-Veteranen waren die ersten, die nach Polen mussten. Aber ich, acht Tage, nachdem ich wieder Knobelbecher an den Füssen hatte, ich habe gehinkt! Gehinkt! In der Kaserne, auf der Straße, auf dem Feld. Immer hinterher gehinkt. Weil meine Ferse schmerzte! Verstehst du! Unheimlich schmerzte! Und kein Arzt konnte mir das Gegenteil beweisen! Keiner!

Mutter nickt freudig erregt: Und deshalb kam er schließlich zur Reserve in die Heimat!

Vater: Ein ganzes Jahr haben sie mich humpeln lassen. Ich habe die Nerven behalten. Die Kameraden haben mich beneidet, und die Leute haben gestaunt über mich Streitmacht. Lacht.

Mutter: Das hat Kraft und Nerven gekostet.

Sohn begreift, etwas ratlos: Du bist also so eine Art… Oh!

Vater: Na sag schon!

Sohn: Du bist ein… Das durfte ich nicht wissen, klar! Du bist ein… Zögert.

Vater: Na sag! Sag es deinem Vater ins Gesicht!

Mutter: Gott oh Gott, Fred, reg dich nicht auf!

Vater: Sag mir, weil ich simuliert habe, verlieren wir den Krieg!

Sohn: Irgendwie…, ich weiß nicht!

Vater erregt: Sollte ich mein Leben riskieren? Wolltest du das? Für Hitler sterben, diesen Verbrecher?

Mutter: Fred!

Sohn: Oh, das jetzt, das mit Hitler, das müsste ich eigentlich…

Vater aufgebracht: Was eigentlich? Was müsstest du? Schon neulich hast du gedroht!

Sohn: Gedroht?

Vater: Ja, gedroht!

Sohn: Nein.

Mutter verzweifelt: Du hast so eine Andeutung gemacht, Junge, so eine komische. Seitdem schlafen deine Eltern nicht mehr so gut!

Sohn: Aber das war doch nur so. Nicht so gemeint.

Vater: Sei doch ehrlich, Jörg! Was hättest du tun müssen? Eigentlich. Als strammer Hitler-Junge?

Mutter mahnend: Fred!

Vater: Ihr solltet eure Eltern denunzieren! So war das doch! Das hat man von euch verlangt. Oder?

Sohn: Naja! Für den Führer und so… Für Volk und Vaterland!

Vater resigniert: Ja, ja, für Volk und Vaterland.

Sohn: Ich fahre dann mal lieber in den Garten.

Vater bitter: Du fährst nirgends hin!

Sohn: Ganz schnell mit dem Rad.

 

 

2. Szene

Detonation auf der Straße. Geschrei.

Vater: Nieder! Duckt euch! Vater, Mutter und Sohn ducken sich unter die Fenster.

Mutter: Geht’s doch noch los.

Sohn: Knallt ganz schön.

Vater böse: Granaten knallen nicht schön!

Sohn: Entschuldige!

Vater: Die reißen einem den Kopf ab. Das war’s dann! Für Volk und Vaterland!

Mutter: Fred, reg dich nicht auf!

Vater:  Der Knall, also, sagen wir mal, ich weiß nicht genau, aber das könnte eine Panzerfaust gewesen sein. Bleibt mal unten! Ich versuch mal… erhebt sich langsam, versucht hinauszuschauen. Aufgeregte Rufe auf der Straße. Ist doch nicht zu fassen! Stehen schon wieder welche an der Ecke. Ziemliche Qualmwolke. Ruft hinunter. Was ist passiert?

Männerstimme von der Straße: Der Irre hat geschossen!

Vater: Nicht die Amis?

Männerstimme von der Straße: Der von der HJ hat einen Jeep getroffen.

Vater: Mit der Panzerfaust?

Männerstimme von der Straße: Jetzt werden sie uns plattmachen!

Vater: So ein Idiot verdammter!

Mutter schaut inzwischen auch: Die Leute gehen ja um die Ecke! Sind die lebensmüde?

Männerstimme von der Straße: Sieht so aus, als ob da was zu holen wäre. Ich guck auch mal!

Sohn: Ich auch! Will schnell los.

Vater wie ein Befehl: Du bleibst!

Sohn: Na, wenn die alle…

Vater: Alles Irre! Wissen nicht, was Krieg ist.

Mutter: Ich glaub, Erna ist da eben auch um die Ecke gegangen.

Vater: Die hat auch die Übersicht verloren, die Erna! Wahrscheinlich denkt sie, sie kann paar Zigaretten schnurren.

Sohn: Na, Zigaretten könntest du aber auch paar gebrauchen. Bei dem Zeug, was du jetzt qualmst!

Vater: Für paar Ami-Zigaretten schicke ich doch meinen Sohn nicht ins Feuer. Ich nicht! Lieber qualm ich Eigenbau.

Mutter: Ein Jeep, was ist das eigentlich? Ein Panzer?

Vater: Nee, kein Panzer. So was wie ein bulliger Geländewagen für den Krieg!

Mutter: Und da sind Zigaretten drin?

Vater: Aber bestimmt! Zigaretten sind fast noch wichtiger als Munition!

Sohn: Verstehe ich nicht.

Vater: Hm, Junge, so ein Glimmstängel gibt Energie, erinnert an die Heimat, lässt vergessen, dass man schon im nächsten Moment tot sein kann. So ist das nun mal.

Mutter: Da kommt Erna!

Vater: Hm, die hat tatsächlich Päckchen  in der Hand.

Sohn: Zigaretten?

Mutter bewundernd: Das ist Erna! Wie sie leibt und lebt!

Vater ruft nach unten: Na, Erna, habt den Ami geplündert?

Frauenstimme von der Straße: Richtige Klopperei wegen der Dinger. Schöne bunte, guck! Willst du eine Stange?

Vater bestimmt: Nein, danke!

Frauenstimme von der Straße: Zier dich doch nicht! Ist Kriegsbeute! Klare Sache!

Vater: Sag mir lieber, wie’s da vorn aussieht!

Frauenstimme von der Straße: Wie’s aussieht? Kaputtes Auto, zwei tote Neger, jede Menge Zigaretten und Schnaps!

Vater: Und da habt ihr einfach zugegriffen?

Frauenstimme von der Straße: Plötzlich ging’s los. Das Zeug lag herum.

Mutter: Gib ihm schon! Der qualmt jetzt jeden Mist.

Frauenstimme von der Straße: Na klar! Achtung! Eine Stange Zigaretten fliegt von unten kommend durch das rechte offene Fenster. Sohn hebt die Stange auf, beschaut sie.

Mutter ruft hinunter: Danke!

Frauenstimme von der Straße: So macht der Krieg Spaß!

Vater: Erna, Erna!

Frauenstimme von der Straße: Lass sie dir schmecken!

Vater: Dankschön jedenfalls. Wenn du mal wieder was gefärbt haben willst. Wenn wir wieder arbeiten.

Frauenstimme von der Straße: Schon gut! Schwarz werden wir ja hoffentlich nicht brauchen.

Mutter: Hoffentlich!

Sohn schnuppert an  der Stange: Riecht ja ungeheuer. Und eine Verpackung! Liest. Camel!

Vater: Na ja, das ist so’n parfümiertes Zeug.

Mutter: Kennst du das?

Vater: Hab bisschen Ahnung!

Sohn: Kost ich auch mal!

Vater: Du gerade! Gib her! Schnuppert.

Mutter: Stinkt’s mal bisschen anders in der Stube.

Vater: Heben wir auf für den Frieden! Öffnet das Schränkchen, legt die Stange Zigaretten hinein.

Sohn: Nicht mal kosten?

Vater: Lausch du mal wieder in die Kiste.

Sohn: Zu Befehl! Steigt auf die Fußbank, schaltet Radio ein, lauscht.

Vater:  Irgendwas passiert jetzt. Ist doch klar. Kann mir nicht vorstellen, dass die Amis auf so eine Attacke nicht antworten.

Sohn missmutig: Wenn du quatschst, hör ich gar nichts!

Mutter verwundert: Wie sprichst du mit deinem Vater?

Vater: Seine Flegeljahre! Was, Jörg? Dreht sich mit seinem Tabak eine Zigarette, raucht.

Sohn missmutig: Ich höre nichts!

Vater: Ach, lass es sein! Was soll’s bringen? Wir können so und so nichts tun!

Mutter: Vielleicht sollten wir lieber wieder in den Keller gehen? Einfach aus Vorsorge.

Vater: Nur jetzt keinen Fehler machen!

Sohn: Genau! Und der Keller wäre ein Fehler.  Gibt das Lauschen am Radio auf, schaltet es aus, tritt ans Fenster: Der Keller ist eine Mausefalle! Oder?

Vater: Ja und nein! Hab ich dir schon tausendmal gesagt. Ein Volltreffer, ist klar, sind wir futsch. Der knallt durch bis unten. Aber schon zwei, drei Meter daneben hätten wir eine Chance.

Sohn: Das Haus zusammengefallen, ein Berg Schutt über uns, keine Chance.

Vater: Ja und nein! Schließlich haben wir Hacke und Schaufel unten. Man muss immer auf die Hoffnung setzen, dass es irgendwie nicht ganz so schlimm kommt.

Mutter: Entsetzlich!

Sohn: Also gehen wir wieder runter? Jetzt? Wo alles total ruhig ist draußen?

Mutter schaut zum Fenster hinaus: Da rennen immer wieder Leute um die Ecke.

Sohn: Kann ich nicht auch mal? Nur gucken! Auf dem Weg zur Tür.

Vater: Junge, was die Leute tun, lass sie. Sie haben keine Ahnung.

Sohn: Nur mal gucken!

Vater: Wenn die angreifen, und das werden die, ist alles eine Sache von Minuten. Mit ihren Jeeps sind die wie die Wiesel.

Sohn: Nur bis zur Ecke!

Vater: Du bleibst hier, wir bleiben hier! Aber wir gehen nicht in den Keller! Nicht mehr nötig!

Mutter: Bist du da so sicher?

Vater: Mit Bomben kommen die nicht mehr.

Sohn setzt sich missmutig: Und wie kommen sie? Wenn sie kommen?

Vater: Ich sag ja, die sind vorsichtig.

Sohn: Können die überhaupt hierher schießen?

Vater: Jedenfalls nicht direkt! Unser Haus steht günstig in der Reihe. Wenn sie auf uns schießen wollen, müssen sie erst einmal um die Ecke kommen.

Sohn: Und oben herum? Granaten fliegen über die Dächer. Oder?

Vater: Müsste man wissen, welche Kaliber sie einsetzen. Wahrscheinlich haben die hier nur ihre Panzer.

Mutter: Ihr mit eurem Kriegs-Gerede! Wird einem ganz mulmig im Kopf. Wollen wir nicht mal bisschen was essen?

Sohn aufmerkend: Oh ja, von dem Fleisch! Nm, nm, nm!

Mutter: Soll ich eine Büchse aufmachen?

Vater: Klar. Bisschen Brot dazu. Muss genügen heute. Mutter nimmt eine Konservenbüchse aus dem Schrank und beginnt, sie zu öffnen.

Sohn: Hab gesehen im Keller, ganz schöne Menge. Standen die da einfach so herum?

Vater: Hab mir eine Kiste gekrallt und bin los.

Mutter: Dein Vater war ganz schön mutig heute Nacht!

Sohn: Ich wäre auch mitgekommen!

Vater: Nichts für Kinder!

 

 

3. Szene

Detonation in mäßiger Entfernung.

Sohn: Oh!!

Vater: Das war, ah, nicht so weit. Wahrscheinlich Chemnitzer Platz. Klang wie ein Schuss aus einem Panzer. Tritt zum Fenster.

Geschrei auf der Straße.

Sohn tritt zum Fenster, schaut: Stehen wieder alle an der Ecke.

Vater: Sind ziemlich aufgeregt, scheint mir.

Sohn: Was kann passiert sein?

Mutter: Dieses Geschieße! Immer so plötzlich! Nimmt mich ganz schön mit!  Hat inzwischen jedem eine Portion Büchsenfleisch auf einen Teller gegeben und jeweils eine Schnitte Brot: Kommt erst mal. Könnt ja doch nichts sehen.

Vater ruft zur Straße hinunter: Ist was getroffen?

Männerstimme von der Straße: Granate beim Schimmel-Wirt. Es brennt!

Mutter: Gott oh Gott!

Vater hinunter zur Straße: Was ist mit Fritz? Und seine Frau?

Männerstimme von der Straße: Die versuchen noch, was zu retten. Bei aller Freundschaft. Ist mir zu gefährlich!

Vater: Wär mir auch zu gefährlich. Auf dem Platz ist man ja auf dem Präsentierteller. Ins Dach der Schuss oder wohin?

Männerstimme von der Straße: Nee, genau in die Kneipe! Beim Stammtisch. Die Gaststube brennt.

Vater: Und Panzer?

Männerstimme von der Straße: August sagt, da ist nur einer kurz herangekommen, hat geschossen und ist zurückgerast. Ich glaub, die Amis stehen unten bei Kratzens Weberei.

Sohn: So weit weg?

Vater: Hm, das ist nah genug!

Mutter: Nun kommt endlich! Nimmt Platz.

Vater nach draußen: Lass gut sein! Wir müssen erst mal was essen! Setzt sich an den Tisch. So ein brennendes Haus ist nicht ganz ungefährlich. Wenn der Wind ungünstig steht…

Sohn setzt sich an den Tisch: Kommt überhaupt noch die Feuerwehr?

Vater: Hm, kannst du vergessen

Sohn: Hab keinen Appetit mehr!

Mutter: Iss, Junge, iss! Wer weiß, was noch alles kommt!

Vater gibt sich Fleisch auf das Brot: Eigentlich alles bloß Geplänkel, das. Was schießen die in eine Kneipe, wenn da gar kein Feind ist? Verstehe ich nicht.

Sohn: Vielleicht hat da drüben an der Ecke auch einer mit einer Panzerfaust gestanden.

Vater: Könnte sein. Noch so ein Irrer!

Mutter: Solchen Kindern müsste man den Arsch versohlen.

Sohn: Was willst du denn? Die kämpfen!

Mutter: Bub, was redest du?

Sohn: Na ja, wenigstens noch paar Mutige!

Vater ärgerlich: Begreif das endlich, Junge, der Krieg ist verloren. Und jeder Schuss, der noch fällt, ist einer zu viel!

Mutter empört: Stell dir vor, uns Haus würde brennen! Weil so ein junges Arschloch noch einen Orden haben will.

Sohn erstaunt: Mama!

Vater: Auf den Orden wird er verzichten müssen!

 

 

4. Szene

Detonation in der Ferne. Unruhe auf der Straße.

Sohn: Das war weiter weg! Oder?

Vater: Ziemlich weit weg!

Mutter naiv ärgerlich: Geht das nun so weiter? Diese Knallerei?

Vater sarkastisch: Wenn’s bei der Knallerei bleibt, kann es uns eigentlich egal sein. Wir können‘s sowieso nicht ändern.

Sohn am Fenster, schaut: Die gucken alle zur Sidonienstraße hoch.

Vater isst weiter: Was soll da sein? Brennt es irgendwo?

Sohn: Sehe nichts.

Unverständliche Rufe auf der Straße.

Sohn lauscht hinaus, wendet sich dann zu seinen Eltern: Die sagen, hm, komisch, ein Schuss auf den Bismarckturm!

Mutter: Gott oh Gott!

Vater hält ein zu essen, besorgt: Auf den Bismarckturm? Wer sagt das?

Sohn: Die Leute! Ein paar haben eine Wolke gesehen.

Mutter: Eine Wolke?

Vater: Wahrscheinlich von der Detonation. Verstehe! Wenn’s stimmt, dann…! Läuft überhaupt noch Wasser?

Mutter: Oh! Eilt zum Wasserhahn, dreht: Nein!

Vater: Verfault!

Mutter: Kein Wasser!

Sohn: Wir haben doch die Eimer voll!

Mutter: Wenn Vater nicht so umsichtig wäre!

Vater: Diese Amis! Ich sage euch, sie lassen uns einfach verdursten. Kostet sie keinen Menschen mehr.

Detonation in der Ferne.

Sohn beugt sich hinaus, schaut nach links, schreit: Eine Wolke! Tatsächlich! Am Turm!

Vater: Oben bei der Plattform? Oder am Sockel? Kommt zum Fenster.

Sohn schaut und spricht: Jetzt verzieht sie sich. Also, eher so in der Mitte. Ja, in der Mitte. Ich hole mal das Fernglas. Eilt zur linken Tür hinaus, kommt mit Fernglas zurück, schaut.

Vater schaut auch: Genau wo die Kessel sind. Na gute Luft!

Mutter: Und wir können nichts tun?

Vater zurück ins Zimmer, sarkastisch: Wir können jetzt gemütlich zugucken, wie der Turm in sich zusammenfällt. Schuss für Schuss! Aus! Basta! So schnell fließt kein Wasser wieder.

Mutter: Gott oh Gott!

Vater: Den kannst du vergessen!

Mutter: Vergeht einem ja der Appetit.

Vater winkt ab: Genug erst mal!

Sohn: Ja, ja! Verdrückt den letzten Bissen Brot. Oh, jetzt riecht’s aber brenzlig.

Vater:. Die Kneipe brennt! Haben wir ganz vergessen. Hat der Wind gedreht, kriegen wir den Qualm ab.

Mutter: Vielleicht brennt inzwischen noch ein Haus. Räumt Speisen und Geschirr ab.

Vater: Alles möglich.

Sohn: Wenn keine Feuerwehr kommt.

Vater: Schlimm für uns wär’s, wenn die Häuser da drüben brennen!

Sohn beunruhigt: Was?

Vater nervös: Obwohl, immerhin ist erst einmal die Straße dazwischen. Das wäre schon mal ein gewisser Schutz.

Mutter: Na! Sei da mal nicht so sicher, mein Lieber! Zeigt nach drüben: Wenn drüben alle Häuser brennen, das gibt eine Hitze, da sind wir hier auch verloren.

Vater: Stimmt! Wenn der Wind ungünstig steht, würde es brenzlig, ziemlich brenzlig sogar.

Mutter: Ohne Feuerwehr und ohne Wasser. 

Vater zum Sohn: Ist niemand in der Nähe unten? Frag doch mal. Ich denk, die gucken von der Ecke aus.

Detonation in der Ferne.

Sohn: Oh! Wieder eine Wolke. Gleiche Stelle! Schaut mit dem Fernglas.

Vater: Na?

Mutter: Dann müssen wir aber die Fenster zu machen, das riecht ja fürchterlich.

Vater winkt ab: Jetzt doch nicht! Zum Sohn: Na, sag schon!

Sohn schaut: Was soll ich sagen? Die Wolke verzieht sich. Wie vorhin. Sieht irgendwie gespenstig aus. Oh! Was ist das denn?

Vater: Was?

Sohn: Komisch!

Vater: Na, was?

Sohn: Eine weiße Fahne!

Vater sehr erregt: Eine weiße Fahne?

Sohn: Genau! Ganz oben auf dem Turm!

Vater: Na klar! Der Türmer! Das ist ja ein Ding! Der ist geblieben. Der ist da die Treppen hoch und hat eine weiße Fahne gehisst! Lass mich! Nimmt das Fernglas, schaut. Weiße Fahne! Eindeutig! Jetzt bin ich aber mal gespannt!

Sohn: Warum?

Vater: Na, ob die Amis noch schießen! Die müssen doch die Fahne auch sehen. Die stehen mit ihren Geschützen bestimmt oben bei Lobsdorf an der Autobahn. Der Turm ist doch ein tolles Ziel von da drüben!

Mutter: Meinst du?

Vater: Da pfeifen die auf die weiße Fahne.

Sohn: Ist die denn so wichtig?

Vater erregt: Natürlich! Das ist im Krieg das Zeichen, dass man aufgibt! International! Verstehst du?

Sohn: Was heißt aufgeben?

Vater: Junge! Das man die Schnauze voll hat und nicht sterben will! Klar?

Sohn einigermaßen ungläubig: Aha! So ist das. Dann gibt’s vielleicht auch wieder Wasser.

Vater: Schon möglich. Wenn die den Turm nicht zerschießen…

Mutter: Oh, das stinkt jetzt aber wirklich!

Vater: Jetzt können wir die Fenster nicht zumachen. Das musst du schon mal aushalten.

Unruhe auf der Straße.

Mutter: Da ist wieder was los!

Sohn schaut nach draußen: Noch eine weiße Fahne!

Vater fast erschrocken: Noch eine? Wo?

Sohn: Oben in der Sidonienstraße. Ganz oben. Die Leute gucken alle.

Vater sehr beunruhigt: Jetzt wird’s hart!

Sohn: Hart? Warum?

Vater: Junge, das verstehst du nicht.

Sohn: Ich will es aber verstehen.

Vater: Das verstehst du  noch nicht so richtig.

Sohn: Was wird hart?

Vater ringt um Erklärung: Weil, wenn Krieg ist, und…

Mutter ahnungsvoll: Müssen wir wohl jetzt auch eine weiße Fahne raushängen?

Vater schüttelt den Kopf: Müssen? Müssen? Sehr nachdenklich: Ich hab’s geahnt, dass wir nicht so glimpflich davonkommen werden.

Mutter: Wird’s gefährlich?

Sohn schaut: Zwei weiße Fahnen.

Vater: Sidonienstraße?

Sohn: Eine in der Georgenstraße.

Frauenstimme von der Straße: Hängt ihr auch eine weiße Fahne raus?

Sohn: Ich weiß nicht!

Frauenstimme von der Straße: Frag deinen Vater!

Sohn wendet sich herein: Was soll ich sagen?

Vater zögert: Sag, wir überlegen das. So schnell schießen die Preußen nicht.

Sohn verdutzt: Die Preußen?

Vater zornig: Ja, wir sind Sachsen! Ich weiß! Tritt zum Fenster, ruft hinunter: So schnell mach ich das nicht, Erna! Erst mal sehen, ob die Amis die weiße Fahne überhaupt respektieren!

Sohn: Du, sie haben nicht mehr geschossen, seit die weiße Fahne hängt!

Vater: Stimmt, Junge! Stimmt! Vielleicht ein gutes Zeichen.

Sohn: Hängen wir auch raus?

Vater: Ich bin da nicht so fix! Hab meine Gründe!

Sohn schaut nach links die Straße lang: Oh, jetzt kann man sie schon nicht mehr zählen.

Mutter: Die teuren Betttücher!

Vater ärgerlich: Nun lamentier noch deswegen!

Sohn: Ach, die nehmen einfach Betttücher?

Vater ärgerlich: Ein weißes Taschentuch tut’s zur Not auch! Schaut hinaus: Hätte ich nicht gedacht! Nachdenklich: Die Leute setzen Zeichen! Hm, hm! So ist das. Bedeutungsschwer: Die Zeit ist gekommen!

Sohn: Welche Zeit?

Vater sarkastisch: Das wissen die Götter! Himmel, Arsch und Zwirn!

Mutter vorwurfsvoll: Immer musst du fluchen. Das hilft nicht, Fred! Das nicht!

Vater: Ich weiß, Thea, ich weiß! Entschlossen: Jörg, hol eine Fahne!

Sohn: Welche Fahne?

Vater: Na die Fahne!

Sohn: Unsere Fahne?

Vater: Na, was dachtest du denn?

Sohn: Die wir immer raushängen?

Vater ungeduldig: Mit dem „immer“  ist es vorbei, wie du siehst! Zeigt zur Straße. Ich brauche die Stange.

Sohn begreift: Ach so, die Stange.

Vater:  Nun geh schon!

Sohn noch immer etwas verwirrt: Ja, ja. Rechts ab.

Mutter: Soll ich mal schon?

Vater: Nimmst ein Kopfkissen.

Mutter: Hm, werd eins finden. Ab.

 

 

5. Szene

Vater will zum Fenster, scheut aber, bleibt hinter der Gardine. Ein Fenster vom Haus gegenüber wird geöffnet, es erscheint eine weiße Fahne, Fenster wird rasch wieder geschlossen. Vater will sich eine Zigarette drehen, zittert, ihm fällt der Tabak herunter: Verfault! Sucht hastig und nervös die Stange amerikanischer Zigaretten im Schränkchen, reißt es auf, fingert sich eine Schachtel heraus, reißt sie auf, nimmt sich eine Zigarette, zündet sie an, macht einen Zug, drückt sie wieder aus, langsam, fast stöhnend: Himmel, Arsch und Zwirn!

Mutter mit weißem Kopfkissen zurück, etwas grantig: Fluchen hilft nicht! Wie oft soll ich das noch sagen?

Vater trotzig, steckt die Zigaretten weg: Aber es erleichtert!

Mutter: Sie haben nicht mehr geschossen. Legt das Kissen auf den Tisch.

Vater: Hab’s auch registriert.

Mutter: Vielleicht hilft’s.

Vater: Vielleicht.

Mutter: Jedenfalls ziemlich ruhig jetzt.

Vater: Find ich eher beunruhigend.

Sohn kommt mit Fahne zurück: Ziemlich ruhig draußen jetzt!

Mutter: Habe ich auch gerade gesagt.

Vater: Wir warten noch! Leg mal hin!

Sohn: Noch warten?  legt die zusammengerollte Fahne ab. Oh, drüben bei Müllers hängt ja auch schon eine weiße Fahne.

Mutter: Bei Müllers?

Sohn: Na guck doch!

Mutter: Also sind sie doch zu Hause.

Vater: Gerade vorhin rausgehängt, und gleich wieder zu das Fenster. Der alte Nazi, so sind sie.

Sohn: Was sagst du für Worte auf einmal?

Vater: Wirst du jetzt noch oft zu hören bekommen.

Sohn: Wie meinst du das?

Vater: Ach, vergiss es! Wir haben jetzt andere Sorgen.

 

 

6. Szene

Detonation in unmittelbarer Nähe. Ein Granatsplitter zerschlägt eine Glasscheibe vom Küchenschrank. Geschrei auf der Straße.

Mutter schreit schrill und kurz auf.

Vater wirft sich sofort nieder und ruft: Runter!

Sohn wirft sich nieder: Das war nah!

Vater: Verdammt nah!

Mutter sinkt auf die Knie: Gott oh Gott!

Vater: Hört sich fast so an, als ob die einen Angriff vorbereiten. Jetzt keinen Fehler machen! Bleibt geduckt unter den Fenstern, greift sich die Fahne, rollt das Tuch auf und reißt es von der Stange. Reißzwecken!

Sohn: Ich?

Vater: Wer sonst?

Sohn: Gleich! Kriecht geduckt zum Schränkchen, entnimmt eine Schachtel, gibt sie dem Vater. Hier.

Mutter: Gott! Wenn wir am Fenster gestanden hätten!

Vater: Wir müssen denen jetzt zeigen, dass wir keine Waffen haben. Heftet mit Reißzwecken das weiße Kopfkissen an die Fahnenstange.

Sohn bissig: Und die Granaten sehen das!

Vater: Machst du Witze? Jetzt? Dann steck mal die Fahne raus! Reicht sie ihm.

Mutter schreit geradezu: Nein! Nicht der Junge! Ich!

Vater: Nein Mutter, du nicht. Geht geduckt zum Fenster, steckt in dieser Haltung die Fahnenstange in die Halterung am Fenstersims, schaut dann vorsichtig hinaus: Alles wieder ruhig draußen. Scheint niemanden getroffen zu haben.

Mutter: Ein Glück! Richtet sich wieder auf.

Vater zeigt auf das abgetrennte Fahnentuch, zum Sohn: Den Fetzen steck in den Ofen!

Sohn: In den Ofen?

Mutter: Lass mich das machen.

Vater: Du kehrst die Scherben auf.

Mutter schwermütig: Alles in Scherben!

Vater: Nicht alles, Thea! Noch nicht! Na los, Jörg!

Sohn: Mach ich nicht!

Vater: Machst du nicht?

Sohn: Unsere Fahne verbrenne ich nicht.

Vater: Lieber verbrennst du selber! Was?

Mutter kehrt die Scherben, empört: Fred!

Vater: Dann sollst du wissen, mein Sohn, das war nie meine Fahne!

Sohn schaut zur Fahne am Fenster, bissig: Aber die weiße…!

Vater: Hm, kämen die Russen, müsste sie rot sein.

 

 

-          Licht aus. Vorhang  -